ALVIN

1. Ein richtiger Gewinner 26.9.01 matt
Alvin konnte es schlicht nicht fassen.
Von einer Sekunde auf die Andere war sein Leben nicht mehr dasselbe.
Gestern noch musste er sich von seiner Chefin sagen lassen, dass er in Zukunft etwas speditiver zu arbeiten habe. Und er hatte sich nicht mal getraut, aufzumucken.
Zu wichtig war sein Job am Postschalter. Alvin hasste zwar seine Arbeit, aber noch mehr hasste er die Ungewissheit. Lieber ein lausiger Job als gar kein Job, war seine Devise.
Aber das war gestern.
Gestern waren Alvins Träume noch klein: Auf einer Harley durch die USA reisen. Einmal mit einem teuren Massanzug zur Arbeit kommen. Einmal wahrgenommen werden von den Kolleginnen. Oder wenigstens von Rita, die im Postkreis 4 auf Tour ging. Nicht immer der scheue, ruhige, stotternde Alvin sein. Einmal das Gelächter auf seiner Seite haben.
Aber das war gestern. Denn gestern war Alvin noch ein Verlierer.
Heute war er ein Gewinner.
Und zwar der Einzige.
Der Einzige mit sechs Richtigen.
Und der Inhalt des Jackpots betrug sagenhafte 26 Millionen Franken.

2. Wahre Erotik 27.9.01 paul
Alvin masturbierte leise vor sich hin, hielt dann aber inne. Irgendwie passte das gar nicht mehr. Er war ja jetzt Millionär, konnte sich alles leisten. Er könnte hinausgehen, und sich auch Sex kaufen, Frauen, alles. Er müsste nichts mehr selber tun, auch das nicht mehr. Er war verunsichert. Dort, wo bisher sein kleines, intimes Glücksgefühl zu orten war, spürte er Verunsicherung. Er könnte sich unmöglich einer Frau hingeben, einfach für Geld, schoss es ihm durch den Kopf. Es wäre ihm viel zu wenig intim. Und wenn sie dann noch wissen würde, wie reich er ist, wäre es aus mit der Stimmung. Er hasste kreischende Frauen, die an ihm herumgrabschten. Olga kam ihm in den Sinn, seine Tante. Sie fand ihn immer sooo süss. Es schauderte ihn. Olga war das Gegenteil von Erotik. Bei Olga könnte er gewalttätig werden, nur im Kopf natürlich. Sein Glied sank schlagartig in sich zusammen.
Er blätterte weiter. Die Schönheit mit den üppigen Brüsten war zu schön um wahr zu sein. Und sie war so entspannt dabei. Alvin hielt es kaum aus. Was für ein wundervoller Mensch, was für eine erregende Erscheinung. Dabei musste ja mindestens ein Fotograf dabeigewesen sein. Wie machte sie das nur? Ihre Ausstrahlung nahm ihn gefangen. Das nannte er wahre Erotik. Mit so einer Person intim zu werden, wäre eine ganz andere Sache. Zeit haben, sich anlächeln, gut Essen gehen, und dann im geräumigen Schlafzimmer langsam, langsam... Erschrocken blickte er auf, und wurde sich dieser Möglichkeit gewahr.

3. Wie ein Fisch im Wasser 1.10.01 werner
Einige Tage zogen durchs Land. Alvin meldete sich krank bei der Arbeit. Grippe. Er verbrachte die meiste Zeit schlafend. Wenn er wach war, ass er etwas aus dem Kühlschrank, schaute fern oder schaute aus dem Fenster. Am Samstagabend tat Alvin etwas besonderes, das er noch nie tat. Er bestellte sich ein Deluxe Deguset Sushi nach Hause. Wegen seiner Eiweissallergie, roch sein Kehricht nun unappetitlich.
Alvin zog sich die Schuhe an. Das erste mal seit vier Tagen. Er verschnürte den Kehricht und schloss die Haustür auf. Miriam von Gegenüber wartete vor dem Aufzug. Auch heute trug sie ein freundnachbarschaftliches Lächeln. "Fährst Du auch mit?" - "Äh, - ja.", stotterte Alvin, "- Gern." Während der Fahrt betrachtete Miriam ihre Schuhe. Alvin beobachtete auf dem Display, wie sie sich gemeinsam dem Erdgeschoss näherten. Alvin roch, was Miriam auch riechen musste. Kurz vor dem Erdgeschoss setzte Alvin ein gequältes Lächeln auf: "Wir hatten Fisch dieses Wochenende..." - "Ach ja?", gab Miriam interessiert zurück. Und als sich die Tür öffnete: "Ich liebe Fisch." Sie wünschten sich noch einen schönen Tag und Alvin trug den Kehricht zum Container.
Anschliessend ging Alvin zum Automaten und hob drei Tausender ab vom Ersparten. Damit ging er zur Tierhandlung und liess sich vom Verkäufer die verschiedenen Aquarien zeigen. Das grösste war so gross, dass er sich nicht vorstellen konnte, wo Miriam es hinstellen würde. Alvin bedankte sich beim Verkäufer und entschuldigte sich, dass er noch nicht sicher sei und zuerst noch einmal genau Mass nehmen müsse zu Hause.
Wie er wieder vor dem Laden stand, war ihm elend zu Mute. Er, der Multimillionär, stand da wie der einsamste Trottel der Welt. "Geld allein macht nicht glücklich" - Ja ja. Aber doch wohl auch nicht unglücklich, oder? - "Verdammt noch mal!", zischte es durch seine Lippen. - "Was: 'Verdammt noch mal'? Alvin! Du hier? Ich dachte, Du hast Grippe?" - Rita stand vor ihm, die Haare zum Pferdeschwanz gebunden, mitten auf ihrer Tour im Postkreis 4. "Siehst aber auch wirklich erbärmlich aus, mein lieber.", fuhr Rita fort ohne ihn zu Wort kommen zu lassen. Zu einem Wort, welches er eh nicht gefunden hätte. "Aha, gehst bestimmt zur Apotheke. Nimm dies. Das hilft immer. Wirst bald wieder auf dem Damm sein. Also: Bis dann, mein lieber." - Und weg war Rita.
- Alvin betrachtete die Tüte, welche Rita ihm zugesteckt hatte: 'Fisherman's Friend.'

4. Unglück im Glück 4.10.01 roger
Schwarz. Still. Still? Nein, ganz weit entfernt: Beep -- Beep. Ein müdes Schnaufen, wie wenn jemand bei dem Versuch, ein Gummiboot aufzupumpen, einschlafen würde. Und dann wieder still.
Es war, als ob sie ertrinken würde, doch es hörte nie auf. Sie klammerte sich mit aller Kraft an die vage Empfindung von Schmerz. Es schien eine Ewigkeit zu dauern. Und wieder tauchte sie in das Meer der Bewusstlosigkeit.
Durch das Fenster drangen die ersten Sonnenstrahlen und trafen Melanies zerkratztes Gesicht. Mit einem leisen Seufzen öffnete sie die Augen. Undeutlich sah sie jemanden, der sich über sie beugte. Sie spürte etwas warmes auf der linken Hand. Sie versuchte sich aufzusetzen. Zuerst war es ihr nicht aufgefallen, doch nun stieg Panik in ihr hoch. "Nicht...".
Alvin sass schon die ganze Nacht neben dem Bett. Er machte sich grosse Sorgen. Natürlich war er sofort nach Kanada gereist als er vom Unfall gehört hatte.
Sie war mit dem Velo auf dem Heimweg von der Arbeit. Es regnete und Melanie spürte, wie die Tropfen ihr Gesicht trafen. Die nassen Hosen liessen sie frieren. Natürlich hätte sie das Velo zuhause gelassen und wäre mit dem Bus zur Arbeit, wenn es am morgen schon geregnet hätte, doch die spätsommerliche Morgensonne lud sie förmlich dazu ein. Und wer hätte geahnt, dass irgend so ein besoffener Idiot sie anfahren würde?
"Sag mir, dass es nicht wahr ist! Sag es!" Die Stimme seiner Mutter zitterte. Alvins Blick traf sich mit dem seiner Mutter. Das Entsetzen, das er darin sah, war einfach zu viel für ihn und er senkte seinen Blick. Er fühlte sich so hilflos.
Die Ärzte sagten, sie könne nie mehr gehen und werde ein Leben lang an den Rollstuhl gefesselt sein. Irgendetwas musste doch zu machen sein. Er würde den besten Spezialisten finden.
Er wollte sprechen, doch seine Stimme versagte ihren Dienst. Er schloss die Augen. Nach einer Weile hörte er ein leises Schluchzen und seine Augen begannen zu brennen.

5. Die Wende 7.10.01 laurie
Mitten am Tag, während andere fleissig arbeiteten, sass Alvin im Café Greco am Limmatplatz und genoss ein Bier. Mitten am Tag, während andere arbeiteten.
Einmal hätte es ihm fast weh getan, so hier zu sitzen. Etwas zu geniessen, was viele andere nicht geniessen können. Jetzt nicht mehr. Das zweite Mal in so vielen Monaten hatte sein Leben eine Wende gemacht. Diesmal sollte er traurig sein aber traurig war er nicht. Fast dankbar. Ja, dankbar wäre eine bessere Beschreibung.
Seine Mutter starb aus unerklärlichen Gründen kurz nach ihrem Unfall. Die Ärzte hatten schon gesagt, dass sie nie wieder würde gehen können. Aber sonst war mit ihr alles in Ordnung. So weit alles in Ordnung sein kann unter solchen Umständen. Aber sie gab auf. Sie nahm schon wieder den einfachsten Weg, um sich aus einer schwierigen Situation zu befreien.
Wie ein Blitz traf Alvin diese Erkenntnis. Sie nahm den einfachsten Weg - genau so wie Alvin es immer tat. Und jetzt war sie tot.
Alvin blickte mit seinem inneren Auge zurück in seine Vergangenheit. Er war jahrelang bei der Post angestellt. Er hasste es zwar, aber Mut zu etwas Anderem hatte ihm gefehlt. Er sehnte sich innerlich nach Rita, aber sie anzusprechen war ihm unmöglich. Eine lange Reihe feiger, peinlicher Erinnerungen gingen ihm durch den Kopf. Er schüttelte ihn angewidert und nahm einen grossen Schluck vom kühlen Bier.
Dass er jetzt genügend Geld hatte, um alles zu machen was er sich nur denken könnte, war nicht die entscheidende Wende seines Lebens. Für andere wäre es das vielleicht gewesen, aber nicht für Alvin. Das Geld hat seine Mutter nicht retten können; und nur das Geld alleine würde Alvin auch nicht retten. Doch es machte plötzlich einiges einfacher.
Alvin legte eine Note auf dem Tisch und stand auf. Mit neu gefundenem Mut verliess er das Lokal und machte sich entschlossen auf den Weg.

6. Schall und Rauch 10.10.01 mona
Ein, aus, ein, aus, ein...nein, ich gehe jetzt. Ich stehe jetzt einfach auf und gehe. Ich trete jetzt einfach aus diesem Kreis und öffne die Türe...Scheisse...gerade als er sich entschliessen konnte den Meditationsraum zu verlassen, liessen ihn seine Beine im Stich. Sie waren im Schneidersitz eingeschlafen. Alvin stöhnte leise. Angelo warf ihm einen ermunternden Blick zu. Alvin lächelte gequält. Er würde wieder die ganze Stunde über sich ergehen lassen, alle am Ausgang umarmen, wieder eine Packung Räucherstäbchen kaufen und "bis zum nächsten mal" sagen. Eigentlich hatte er im "El Greco" beschlossen eine Flasche Wein zu kaufen und am hellichten Nachmittag Rita zu besuchen. Doch wie es so kommt, da war dieses Plakat und er hatte eben doch noch das Gefühl, es sollte ihm vielleicht geholfen werden, er müsse womöglich erlöst werden. Die Klangschale erlöste Alvin zumindest aus seinen Gedanken und trotz des anerkennenden Blickes von Angelo stand er urplötzlich auf seinen Beinen, rempelte ein paar Halberwachte an, riss die Türe auf, stürzte zur Toilette und übergab sich. Die Räucherstäbchen, einmal musste das so kommen. Er wischte sich den Mund ab, zog die Jacke an und trat in die nächtliche Stadt. Er ging die Treppe hinauf zur Hardbrücke und liess sich von den Lichtern eines Autobusses verführen. Er stieg ein, ohne Billet. Das war stark. Langsam schritt er zum Führerstand. Er sah ihre kleine Hand auf dem gewaltigen Steuerrad. Ein Türkis am Mittelfinger, irgendwie indianisch. Er folgte dieser Linie bis zum Stoff und weiter. Er wusste genau wie's weiterging, endete nicht etwa bei den Schultern, sondern bei ihren Brustspitzen, die so total verborgen irgendwo unter diesem unglaublich groben Stoff stecken mussten. Wahrscheinlich ständig erregt. Er lächelte sie an. Sie schaute glücklicherweise geradeaus, stoppte aber bei der Ampel so gekonnt, dass Alvin gegen die Haltestange knallte und halb ohnmächtig neben den Führerstand sank. Er bekam nicht alles mit, nur dass sie die wenigen Passagiere beruhigte, ihm ihre Jacke unter den Kopf legte, wobei er eine der Spitzen zu erhaschen glaubte, und sogleich einschlummerte. Alvin erwachte auf einer Decke, sah weit über sich lustige Halteschlaufen baumeln und viel näher die beiden Spitzen. Er lachte, öffnete dabei den Mund und trank die erträumte Seeligkeit.

7. Endlich Ich 25.10.01 andreas
Alvin sass wieder im Bus, die gleiche Linie, selbst die Richtung war die gleiche, wie wenn nichts geschehen wäre, als ob die Wochen im Spital ein Teil einer anderer Realität waren. So, als ob nicht er das erlebt hätte.
Es hatte sich nichts geändert, ausser vielleicht, dass ein Mann hinter dem Steuer sass. Auch das Plakat hatte er schon mehrfach gesehen, der grosse raue Mann, Individualist, kümmert sich um nichts.
Mit '..das kann ich mir jetzt leisten..' meldete sich ein tief vergrabener Wunsch in Alvin, so zu sein wie kein anderer. Jetzt steht nichts mehr zwischen mir und meinem wahren Ich, ich kann mir mein Mich jetzt endlich gönnen. Die Freude dieser Erkenntnis sprudelte in ihm hoch. Er fühlte sich wie in der Werbung '... verleiht Flüüüügel ...'
Er wusste genau, wie er seine Individualität realisieren würde. Wie oft hatte er mit Verlangen die Bilder gesehen.
Ein BMW, der Z3, Cabriolet, dunkelgrün, das war Individualität pur, das Abbild seiner Seele.
Den Weg zum Händler, den kannte er. Und wie er behandelt wurde, in seinem neuen weissen Anzug, massgeschneidert. Den Wagen wollte er schnell.
Ohne Wartezeit gab's den in Hellblau. Passte irgendwie noch besser zum Anzug, der Händler war sich dessen ganz sicher. Als er mit dem Flitzer aus der Garage rollte, fühlte Alvin, dass er nun in seiner Seele sass, in seinem eigentlichen Selbst. Endlich Er.
Und es würde so weiter gehen, er würde sich alles gönnen, was wirklich ihm gehörte, was Teil seiner selbst war. Eine Yacht vielleicht? Eine Ferienresidenz auf Guadeloupe?
Er wusste, dass Rita am Mittwoch nach der Arbeit im Gran Café sass, ihren Bananen Shake vor sich. Das Limmatquai, da konnte er an ihr vorbeigleiten. Er würde sie nicht beachten, nicht bei der ersten Passage, er würde nur cool lächelnd geradeaus schauen. Hinter dem 15er an der Haltestelle staute sich der Verkehr, es dauerte. Es war schwer, den Kopf nicht zu drehen, dauernd zu lächeln, cool zu sein, Individualist. Er sah nur aus dem Augenwinkel, dass der Z3 dunkelgrün war, und es war Paul, der am Steuer sass.

8. Gedankenblitz und Seelengewitter 25.10.01 thomas
Paul, dieses miese Schwein, das ihm schon damals bei jenem Mädchen zuvorgekommen war, welches ihn hätte glücklich machen können. Blitzartig tauchten Bilder auf von früher, von der Zeit, als er noch arm war und auch unglücklich, aber noch nicht desillusioniert genug, um nicht mehr an eine positive Wende in seinem Leben zu glauben. Fünf Jahre ist es nun her. Da war dieses Mädchen, Madelaine, an die er immer denken musste, wenn er "something in the way she moves..." hörte und mit dem er sich zum Rendez-vous hatte treffen wollen. Fünf Jahre ist es her, aber in diesem Moment wurde die Geschichte wieder lebendig, sie ergriff Alvin mit derselben Intensität, mit der er damals gelitten hatte, als er Paul mit seiner Madelaine im Park rumturteln sah, kurz vor dem geplanten Rendez-vous. Mit seiner Madelaine, mit der er sich ein Leben hätte vorstellen können, nicht so, wie er es sich gelegentlich mit Frauen hätte vorstellen können, mit denen er noch nie in Kontakt getreten war und die ihm irgendwo zufällig begegneten und sein Inneres aufwühlten. Nein, kein solch verschwommenes Phantasie-Leben, kein Mix aus Pornofilm und Hollywood, sondern ein reales Leben, eine gute Beziehung, die alle Hochs und Tiefs überlebt hätte, mit Kindern und eigenem Gemüsegarten auf dem Pöstler-Freizeitareal vielleicht, mit Ferien im Tessin in einem betriebseigenen Genossenschaftshäuschen und mit gemeinsamen Fernsehabenden. All dies hätte sein können, und auch das Rendez-vous hätte stattgefunden, wenn Alvin nicht - versteckt hinter einer Thuiahecke - gehört hätte, wie der Paul, dieses Herrensöhnchen, das schon als Baby den Arsch mit Tausendernoten abgewischt gekriegt hatte, seine Madelaine ins Chez Max eingeladen und gemeinsame Ferien in der Karibik vorgeschlagen hatte und, was dem Fass den Boden sprengte, dann auch noch vernehmen musste, wie Madelaine "Oh Paul" sagte, und wie dann eine unendlich lang erscheinende Stille eintrat, die nur durch leise Schmalzlaute unterbrochen wurde. Ja, genau an diesem Tag war es, als Alvin sich geschworen hatte, auch zu Geld zu kommen; seit diesem Tag spielte er Lotto. Und nun hatte die Glücksfee also auch bei ihm zugeschlagen, nur hatte er immer noch keine Frau und Paul immer noch das "Modell", das er eigentlich hätte haben wollen.
Seinen in der Meditationsstunde eingeübten Loslass-Mechanismen gehorchend liess sich Alvin nicht weiter in die drohende Tiefe reissen sondern er konzentrierte sich kurz auf seinen Atem, löste bei jedem Ausatmen ein Stück Erinnerung im Nichts auf und war schon bevor das Lichtsignal wieder auf grün wechselte bereit, dem Leben mit Interesse und dem grünen Z3 mit Ignoranz zu begegnen. Angespannt fröhlich fuhr er weiter Richtung Escher Wyss Platz, wo in Kürze im Moods ein Konzert mit Jim Hall stattfinden würde; vielleicht traf er dort ein paar Freunde...

9. Der alte Sack und die grüne Fee 30.10.01 adrian
Wie immer keine Parkplätze in angenehmer Fussdistanz beim Schiffbau. Nun ja, nicht so schlimm, dachte sich Alvin, parkierte seinen neuen Flitzer auf dem Trottoir direkt neben dem Eingang zum Schiffbau und steckte schon mal präventiv 50 Franken unter den Scheibenwischer (40 Franken für die Busse und grosszügigerweise noch 10 Franken Trinkgeld für das nette Bussenfräulein).
Knapp vor Konzertbeginn betrat er das Moods, wo er sich noch einen Stuhl an einem dieser lästig niederen Tischen ergattern konnte. Schicksal oder Zufall, an denselben Tisch setzte sich zwei Minuten später ein älterer Herr.
Schon etwas mitgenommen vom Kuss der grünen Fee, den sich Alvin auf dem Weg zum Tisch an der Bar eingefangen hatte, schien Alvin seinen Tischnachbarn als Charles Bukowski erkennen zu können. War denn das möglich, dieser alte Sack, hier in Zürich? Im Jahr 2001? Wo dieser doch schon vor einigen Jahren ins Gras gebissen hatte.
Da half alles rätseln nichts. Zurück an die Bar und sich von Brahim einen weiteren Absinth ausschenken lassen. Mann, fuhren diese Dinger ein! Besser noch einen bestellen und einen dazu für Buk.
Nicht dass sich Bukowski für den Drink bedankt hätte. Einfach runtergestürzt und mit einem donnernden Rülpser das Glas auf den Tisch geknallt. So ein Penner, dachte sich Alvin. Wo sie doch beide jahrelang bei der Post gearbeitet hatten. Und beide diesen Job zutiefst hassten. Und beide waren nicht gerade gesegnet mit den Sonnenseiten des Lebens. Born to lose! Und jetzt dies, er, der wenigstens im Spiel Glück hatte, sich von diesem miesen, dreckigen Alki so behandeln zu lassen!
Der dritte runtergekippte Absinth hatte zur Folge, dass Alvin, auf schwankenden Beinen, das Tischchen in die Luft hob und, begleitet von einem Urschrei- ähnlichem Gebrüll, die Tischplatte auf Charlie knallen liess. Sekunden nachdem sich Alvin das angespritzte Blut von den Lippen geleckt hatte, verlor er das Bewusstsein und knallte rücklings mit dem Kopf gegen das Mischpult.
Wen hatte Alvin im Rausch zusammengeschlagen? Paul? Seinen Vater, den er seit Jahren nicht mehr gesehen hatte? Irgend einen Unbekannten? Wo und wann wird Alvin aus seinem Rausch erwachen? Würde er je das Licht am Ende des Tunnels wieder sehen? Macht Geld wirklich glücklich? Sind Postboten, die drei mal klingeln wirklich bessere Lovers? A- oder B-Post? Cumuluskarte?
Shit!

10. Spielball der Götter 1.11.01 reto b.
Schwarz. Still. Still? Nein, ganz weit entfernt: Beep -- Beep. Ein müdes Schnaufen, wie wenn jemand bei dem Versuch, ein Gummiboot aufzupumpen, einschlafen würde. Und dann wieder still.
Es war, als ob er ertrinken würde, doch es hörte nie auf. Er klammerte sich mit aller Kraft an die vage Empfindung von Schmerz. Es schien eine Ewigkeit zu dauern. Und wieder tauchte er in das Meer der Bewusstlosigkeit.
Durch das Fenster drangen die ersten Sonnenstrahlen und trafen Alvins geschwollenes Gesicht. Mit einem leisen Seufzen öffnete er die Augen. Undeutlich sah er jemanden, der sich über ihn beugte. Er spürte etwas warmes auf der linken Hand. Er versuchte sich aufzusetzen. Zuerst war es ihm nicht aufgefallen, doch nun stieg Verwunderung in ihm hoch. Es war Rita, die seine Hand hielt. Wo war er? Im Himmel? Ein Traum? Er blickte sich um. Alles um ihn leuchtete weiss. Rita schob ihn sanft in die Kissen des Spitalbetts zurück und legte einen Finger an ihren Zuckermund: "Du darfst dich jetzt nicht anstrengen, Alvy,...,Liebling". Also doch nur ein Traum dachte Alvin, zu schön und kitschig, um wahr zu sein, eine Groschenroman-Szene. Seine Augenlider wurden bleiern und zogen ihn hinab in Morpheus träumende Arme: Alvin treibt im aufgewühlten Meer, klammert sich an eine Planke seines vom Sturm aufgeriebenen Bootes. Hilflos ist er den gewaltigen Kräften Poseidons ausgesetzt, den er sich zum Gegner gemacht hat und der ihn mit aller Macht von seiner Heimat und seiner geliebten Penelope fern hält. Wahrlich, die Götter treiben ihr Spiel mit den Menschen, halten ihnen das Glück vor die Nase und nehmen es ihnen wieder weg, stürzen sie in die Schlünde der Verzweiflung, bis es Ihnen wieder gefällt sie zu martern mit neuen Hoffnungen. Die Götter sind unsterbliche Sadisten. Dauerhaftes Glück ödet sie an. Menschen sind ihr Spielzeug, ein jeder ein Tantalus (bzw. eine Tantala), angebissene Mäuse in ihren Katzenkrallen, Truemen bzw. Truewomen in einer gigantischen Big Brother Show. Doch gibt es da nicht auch Göttinnen und Götter, die den Sterblichen wohlgesinnt sind, die schöne Kapitel in ihr Lebensbuch schreiben. Ist nicht Zeus' blauäugige Tochter Athene meine Verbündete, geht es Alvin durch den Kopf, als er in seinem wogenden Traum dahintreibt.

11. Doktorspiele 2.11.01 matt
Als Alvin eine Stunde später die Augen einen Spalt weit öffnete, sah er Rita am Fussende auf dem Bett sitzen, den BLICK lesend.
Also doch kein Traum.
"Hallo", sagte er schwach. Rita senkte schnell die Zeitung und strahlte ihn an wie noch nie zuvor.
"Alvin, mein Lieber, ich habe mir solche Sorgen gemacht! Geht es Dir wieder besser? Schmerzt Dein Kopf noch?" Alvin hatte schon völlig vergessen, dass sein Kopf schmerzte. Nur gut, dass er sein eigenes debiles Lächeln nicht sah. Rita schien es nicht zu stören, denn sie setzte sich ganz nahe zu ihm aufs Bett und beugte sich so weit nach vorne, dass ihr Gesicht nur noch Zentimeter entfernt war von seinem.
"Alvin, mein Liebster", flüsterte sie zärtlich. Ihre linke Hand legte sich ganz leicht auf seine Schulter und mit der anderen Hand fuhr sie vorsichtig durch sein vom Schweiss verklebtes Haar. In den folgenden Minuten gestand sie ihm, dass sie schon seit langem eine Schwäche für ihn hatte, sich aber nie traute, ihn es merken zu lassen. Das erstaunte Alvin sehr, denn er hatte sie immer als Frohnatur gekannt, alles andere als schüchtern. Alvin war überglücklich.
Während sie so intim plauderten und kleine Geständnisse austauschten wurde Alvin langsam ein wenig nervös. Der Anlass dafür war Ritas linke Hand, mit der sie ihn geistesabwesend streichelte, erst nur an der Schulter und am Oberkörper, nun aber je länger je mehr auch am Bauch und gar noch tiefer. Das war sich Alvin nicht gewohnt.
Als er gerade dachte: "Oh mein Gott, hoffentlich kriege ich keinen Harten, das merkt sie doch unter diesem dünnen Spitalhemdchen sofort ..." ging ein Alarm los. Das Pulsmessgerät, das neben dem Bett stand piepste penetrant, denn Alvins Puls hatte die Alarmgrenze von 160 überschritten. Rita hatte sich schnell gefasst und schaltete das Gerät kurzerhand aus. Dann schaute sie ihm tief und etwas verrucht in die Augen, liess die Hand zielstrebig unter sein Hemd gleiten und griff zu. Für einige Sekunden vergass Alvin zu atmen. Dann holte er tief Luft und sagte leise "Wow!".
Rita schlug seine Bettdecke zurück und machte sich daran aufs Bett zu klettern. Alvin wusste nicht mehr, wie ihm geschah; erst dreissig Jahre gar nichts und dann das! Als sie ihr linkes Bein über ihn hob, um sich rittlings auf ihn zu setzen, sah er, dass sie unter ihrem Sommerkleid nur einen lächerlich knappen Tanga trug. Rita schaute ihn entschlossen und selbstbewusst an und machte sich gerade daran einen Gang höher zu schalten und Alvin wurde langsam klar, dass seine sexuellen Fantasien lachhaft waren im Vergleich zur Wirklichkeit, die gerade eben jetzt zu passieren im Begriffe war, da öffnete sich die Türe zu seinem Spitalzimmer. Rita und Alvin erstarrten in ihrer Bewegung, wie ein Standbild aus einem RTL-nach-elf-uhr-Softporno.
Durch die Türe drängte sich ein riesiger Blumenstrauss, dahinter kam Miriam zum Vorschein, Alvins Nachbarin. Ihr Lächeln gefror als sie die Szene erblickte und realisierte, was hier gerade abging. Nach einer Schrecksekunde sagte Rita eiskalt und betont beherrscht "Sehen Sie nicht, dass Sie stören? Raus hier!". Miriam liess sich aber nicht so leicht einschüchtern, trat einen Schritt näher, schrie "Du elende Schlampe!" und schlug Rita den mächtigen Strauss so heftig um den Kopf, dass die Gerbera-Blätter nur so flogen. Alvin war immer noch sprachlos, sein Glied vor Schreck völlig zusammengefallen.
Den darauf entbrennenden gnadenlosen Nahkampf zwischen den Rivalinnen nahm Alvin nur noch nebelhaft war, denn Alvin verstand nun gar nichts mehr. War Miriam also auch in ihn verliebt? Das hatte er nie auch nur geahnt, hatten sie doch kaum ein paar Worte im Fahrstuhl gewechselt. Und jetzt kämpfte sie sogar um ihn!
Er hatte diese beiden Frauen so total falsch eingeschätzt.
Wovon er ebenfalls nichts wusste, war die rote, fette BLICK-Schlagzeile von heute morgen:
LOTTO-MILLIONÄR MACHT KLEINHOLZ AUS JAZZBAR !!
Sogar ein altes Foto von ihm hatten sie aufgespürt.

12. Flucht 4.11.01 jakob
Natürlich war es Rita, welche die Schlacht gewann.
Natürlich nützte ihr das nicht viel, denn gleich wurde die Türe zum Zimmer aufgesprengt und Krankenschwestern und ein Pfleger machten dem Treiben ein Ende und beförderten beide Frauen auf die Strasse.
Aber natürlich half Alvin auch das nichts, denn nun stürmte ein zahlenmässig starkes TV-Team des Lokalsenders den Raum. Aufgeweckt durch die Schlagzeile des BLICK wollten sie wissen, wie er sich fühle, ob er das Ganze schon realisiert habe, ob er Frau und Kinder habe, ob er dann wenigstens eine Katze habe, wie die sich fühle und ob ... . Nun ja, man kennt das ja zur Genüge, die Home-stories.
Alvin hörte gar nicht hin. Tiefe Trauer senkte sich über ihn, denn nichts bewahrte ihn vor der Einsicht, dass die plötzliche Liebe von Rita nur der Liebe zu seinem Geld entsprungen war, desgleichen jene von Miriam, und dass die wahre Liebe ferner gerückt war den je. Denn, vielleicht ausgelöst durch den Schlag auf den Kopf, waren BMW-Flitzer, weisser Dandyanzug und derlei ihm wieder total einerlei, denn, vielleicht angeregt durch diese jungfräulichen weissen Wände und Gerätschaften des Spitalzimmers, schien Alvin die wahre Liebe das alleinig Erstrebenswerte.
In seiner Trübsal realisierte Alvin erst allmählich, dass sich ein zweites TV-Team mit dem ersten um die guten Plätze an seinem Bett stritt. Und man würde es nicht glauben, unserm allzeit ungeschickten Alvin gelang in dem wilden Durcheinander die Flucht, durch die labyrinthischen Gänge des Krankenhauses (oder war das wieder nur ein Traum) auf die Strasse. Sogar seine schwarze Hose mit Brieftasche und Ausweis war ihm irgendwie, unter seinen Arm geklemmt, gefolgt. Diese Hose zog er nun hastig über seinen nackten Hintern an. Das weisse Spitalhemd darüber kleidete ihn nun beinahe wie die Djellabah die Araber.
Nun stürzten seine Verfolger aus dem Tor, auch sie in Djellabahs, denn es waren nicht die Fernsehleute, die sich offenbar noch immer prügelten, sondern die Pfleger in ihren Schürzen, die "haltet den Flüchtling" riefen. Aber wen interessiert das schon in einer grossen Stadt. Alvin spurtete davon, wobei wegen der fehlenden Unterhose das Glied plus Zutat unangenehm im linken Hosenrohr baumelte. Doch schon schlossen sich die Tramtüren hinter ihm. Und nach zweimaligem Wechseln der Linie hätte ihn der beste Detektiv verloren.
Jetzt stand er in der grossen, leeren Halle des Hauptbahnhofes; der riesige, fette, bemalte Engel über ihm war das einzige Wesen, das ihn zu beachten schien. Selbstmitleid schüttelte ihn. Diese grausame, kalte Stadt. Denen würde er es zeigen, allen, die danach trachteten, ihn zu manipulieren und auszunützen! Er stieg in den nächstbesten Zug ein und stierte vor sich hin. All diese Schreiberlinge von den Zeitungen und die Fernsehfritzen, die seine Geschichte umschreiben, ihm ihre Geschichte auf den Leib schreiben wollten. Aber hatte er denn überhaupt eine eigene Geschichte? So blass wie er war. Die junge, hübsche Frau, die ihm gegenübersass, beobachtete ihn mit Interesse aber auch Sorge, ohne dass er davon etwas mitbekommen hätte.
Nach einer Stunde befand Alvin, der Fahrerei sei nun genug, und er stieg aus. Das Licht der milden Sonne fiel auf die farbigen Herbstwälder, die sich die Berghänge hochzogen, und auf das Schild des Bahnhofs "Sargans". Er schritt durch die Unterführung dem Ausgang zu. Das baumelnde Glied im Hosenrohr störte ihn wieder. Ein paar Schülerinnen starrten ihn in seinem weissen Hemd an: Landeier eben.

13. Alvin im Blick 12.11.01 wägi
"Ziemlich gross", sagte Julika zu der Bedienung. "Landeier eben", murrte die Frau. Eigentlich wollte sie nur den flüchtenden Prügelmillionär unauffällig im Auge behalten. Sie war ihm bis in den Landgasthof "Zum heiteren Kalb", in einem kleinen Weiler ausserhalb Sargans gefolgt. Um in der menschenleeren Dorfknelle nicht aufzufallen, hatte sie ein kleines Omlett bestellt. Und nun diese Landeier-Portion. Ihre Slimfast-Hüften lassen grüssen: machen alles ziemlich schnell schlimm.....
"Anyway...back to business", dachte sie und kaute auf dem gelblich-braunen Landei. Bisher lief ja alles gut, sie konnte sich nicht beklagen. Sie war - soweit sie gesehen hatte - die einzige, welche die Spur des Flüchtigen hatte halten können. Nun musste sie, Julika Walraff geborene Tschudy, kleine Teilzeit-Blick-Reporterin, nur noch etwas Heisses über diesen Postboten herausfinden. Irgendwas.
Alvin Richard Brunschwiler, 31 Jahre. Ledig. Reformiert. Single. Lottomillionär. Aus einfachen Verhältnisse stammend. Abgebrochene Mechanikerlehre. Dann bei der Post. Keine Weibergeschichten. Keine Strafzettel. Nichts blick-taugliches. Natürlich bis auf die kleine Eskapade von vorgestern im Moods. Was wollte sie über den Wurm herausfinden?
Sie beobachtete ihn nun schon seit einer halben Stunde. Er las immer noch in einem Buch, dass er am Bahnhofkiosk Sargans gekauft hatte. Nichts Aufregendes war passiert. Was las er so konzentriert? Der Einband des Buches war ganz in schwarz...still...Stiller!
Und plötzlich ganz nah: Beep -- Beep, ihr Handy klingelte. Ein müdes Schnaufen, wie wenn jemand bei dem Versuch, ein Gummiboot aufzupumpen, einschlafen würde. Und dann wieder still. Das war Anatol Weiss. Ihr kari-asthmatischer Chefredaktor wollte sich nach "seiner Story" erkundigen. "Seine Story". Nur weil der kleine Postbote ausgerechnet IHM, eins über die modisch-kahle Rübe gezogen hatte, erklärte er die mediale Vernichtung des Lottomillionärs zur Chefsache. "Ganz ruhig, Anatol. Ich krieg das schon hin", sagte sie und legte auf.
Nur wie? "Ich bin nicht Julika", sagte sie sich trotzig. Ich bin Günther, mit zwei l. Der grosse Günther. Ich schreib die Story meines Lebens und krieg einen festen Job beim Blick oder beim Tagi.
Plötzlich wurde sie durch eine Stimme aus ihren Gedanken gerissen. Alvin stand vor ihrem Tisch und fragte: "Kann ich mich zu Ihnen setzen?".

14. Frauen, die befehlen 14.11.01 paul
Julika fummelte ungeschickt mit ihrem Besteck herum, um das Handy nicht von der Tischkante zu stossen, sondern nur in den Schatten ihres Ärmels verschwinden zu lassen. "Sie sind herzlich willkommen!", prustete sie fast übernatürlich laut, fasste sich aber gleich wieder, moderat "bitte", nachschiebend.
Er sah mitgenommen aus, der Kleine, eigentlich ein echter Losertyp, wie sie sie von Würstchenbudenstories oder Erlebnisberichten von eingeklemmten Fingern in Bustüren her kannte. Es war klar, dass sie in seinem Leben keine Sensation finden würde, bestenfalls eine Peinlichkeit aus der Schulzeit, aber sonst nichts. Und alleine seine Millionen machten auch noch keine Story aus ihm.
Sie hörte, wie er die üblichen Ungeschicktheiten zum besten gab und lächelte tapfer mit. Wenn es jemand in diesem leeren Raum gab, der einen Aufhänger bieten könnte, dann war sie es. Einziges Problem: Wie brachte sie diesen Typen mit ins Spiel? Ein Blick rund ums Jägerstübchen liess sie ratlos werden. Hier waren sie am Ende der Welt. Erst die Reitutensilien an der Wand und das schamvoll verdeckte Taschenbuch neben ihm liessen sie auf eine äusserst verlockende Idee kommen.
Ihre Zimmer lagen nebeneinander, wobei sie glücklicherweise die 13 hatte, die bald nach dem kurzen "Tschüs" Grund für ein erneutes Klopfen war. "Ich kann unmöglich. Meine Tante kam in einem Zug um, der 13 Mal anhielt, bevor ihr Dackel sie mit einer Salmonellenpastete infizierte. Und meine Hausratsversicherung hat an 13. Position eine antike Wandlampe vermerkt, die prompt nie geklaut wurde. Und mein Onkel sammelte alte Sturmgewehre, bis er sich mit dem 13. das Ohrläppchen wegschoss."
Alvin starrte auf das straff gespannte Negligee vor seinen Augen und verlor etwas den Faden aufgrund der vielen Zahlen, die im Spiel waren. Er sah vor allem eine dicke Zwei vor sich und bat sie natürlich herein in seine harmlose Nummer 12.
"13 Ohrläppchen", stammelte er noch vor sich hin, als Julika bereits den Schlüssel hinter sich gedreht hatte und ein langes Seil und die eben geklaute Reitpeitsche aus der Tasche zog.
"Ich irre mich doch nicht, dass du das magst, oder", fischte sie keck nach seinen Lüsten, die er ungeschickt mit dem Taschenbuch mit schwarzem Einband preisgegeben hatte.
"Ich..."
"Genau. Und zwar nackt. Jetzt."
Alvin gluckste verstört und wollte etwas erklären zum Taschenbuch mit dem anzüglichen Titel "Frauen, die befehlen", doch Julika hatte es sich bereits vom Nachttisch gefischt und triumphierend zu sich genommen. Ein genauerer Blick aber liess sie erstarren.
"Scheisse", zischte sie durch die angespannten Lippen, "ein Managementbuch".

15. Trost durch Berührung 18.11.01 reto h.
In einem alten Film könnte sie jetzt in Ohnmacht fallen und so der unangenehmen Situation leicht entfliehen. Julika bedauerte, dass die Frauen heutzutage dieser eleganten Ausdrucksform beraubt sind. Während sie nach einer weniger peinlichen Alternative suchte, kam ihr Alvin zu Hilfe, indem er zitternd in die Knie sank und leise zu weinen begann. "Ich halte das nicht mehr aus." schluchzte er. "So geht es nicht weiter!" Dankbar für diese Wendung setzte sich Julika daneben und nahm ihn tröstend in ihre Arme. Er stiess einen tiefen Seufzer aus und liess seinen Kopf auf ihre Brust fallen. Sie drückte seinen Kopf fest an sich und streichelte ihm tröstend über den Rücken. Er stiess einen tiefen Seufzer aus und streichelte ihr ebenfalls über den Rücken. Sie zupfte das Hemd aus seiner Hose und streichelte ihm tröstend über den nackten Rücken. Er stiess einen tiefen Seufzer aus, zupfte ihr Negligee nach oben und streichelte ihr ebenfalls über den nackten Rücken. Sie öffnete sein Hemd und streifte es ihm ab. Er streifte ihr das Negligee ab. Sie nahm seinen Kopf in ihre Hände und begann, ihn auf den Mund zu küssen. Er erwiderte ihren Kuss. Ihre Bewegungen wurden heftiger, die Geräusche lauter. Als Julika ihre Hand zu Alvins Hose führte und den Knopf aufriss, erstarrte Alvin plötzlich und schrie "Halt!". Erschrocken zuckte Julika zurück. Alvin zitterte und stotterte: "Ich kann nicht." "Warum nicht?", fragte Julika. "Ich kann es Dir nicht sagen.", antwortete Alvin. "Du kannst es mir sagen.", entgegnete Julika. "Ich traue mich nicht.", sagte Alvin. "Mir kannst Du es sagen.", wiederholte Julika. Alvin senkte seinen Kopf und stiess einen weiteren tiefen Seufzer aus. "Es ist eine lange Geschichte.", begann er leise nach einer Weile. "Es war an einem Montag Vormittag in der Schule."

16. Edding 18.11.01 paul
Julika, halb genervt, halb neugierig, versuchte unbemerkt mit der rechten Hand an die Plastictüte heranzukommen, wo das Aufnahmegerät drin war. Schule, das tönte an sich immer schlecht, aber besser als nichts wäre es vielleicht. Und an ein Schäferstündchen war wohl sowieso nicht mehr zu denken. Also Job first.
"Also Montag morgen, wie gesagt, und es ging um die Berufswahl..." Julika gähnte bereits und sehnte sich ihr Negligee zurück. "Der Lehrer erklärte uns die verschiedenen Berufe und ihre Bedeutung innerhalb der Gesellschaft." "Schön" kommentiert Julika süffisant.
"Neben mir sass Karl. Er wollte Bauer werden, weil auch sein Vater schon Bauer war, und sein Grossvater wohl auch. Bei seinem Urgrossvater bin ich nicht mehr so sicher, aber ich nehme an, dass auch er..." "Komm zur Sache..." Julika stellte genervt fest, dass sie ja immer noch die Peitsche dort am Bett stehen hatte, beruhigte sich aber wieder.
"Nun, Karl war ein feiner Kerl, und eigentlich hatten wir nie etwas gegeneinander. Es war sogar so, dass er mir meist einen Bissen seiner Brotschnitte... "Was ist in deiner Hose?" plärrte Julika unwirsch, sodass ihre Brüste nachbebten wie ein angekuppelter Güterwaggon.
"Ich... ich... will es ja gerade eben erklären." "Und ich will keine Erkältung" schob sie kleinlaut nach, etwas erschrocken ob ihrer schroffen Art, diesem an sich harmlosen Mann gegenüber. Aber er hatte etwas so einladend opferhaftes, dass sie sich wohl kurz daran vergriffen hatte.
"Karl glaubte mir nicht, dass ich zur Post wolle." "-Wie bitte?" "Nun, ich dachte bei der Post, da ist man nützlich, hat täglich etwas zu tun, und..." "Warum glaubte Karl was nicht?" hakte Julika misstrauisch nach.
"Nun, ich wählte die Post als mein ideales Berufsbild, da ist eigentlich nichts dagegen zu sagen, oder?" Julika stöhnte entnervt. "Und dann?"
"Ich schrieb es mir auf die Unterhose." "-Was?" "Nun, dass ich zur Post will." "Was, du schriebst dir auf die Unterhose, dass du zur Post willst?" "Ja", flüsterte Alvin kleinlaut.
Julika konnte sich das Grinsen kaum verklemmen und grunzte hinter vorgehaltener Hand, worauf ihre Brüste noch viel wilder tanzten, und Alvin fast schwindlig wurde beim verfolgen der beiden nicht synchronisierten Bewegungsverläufe. Dann aber erholte sie sich, wischte sich eine Träne aus der Wange, und befand mütterlich, dass das wohl ja noch nicht schlimm sei.
"Doch." stammelte Alvin "ich schrieb es mit Edding. Es drückte durch." "Wo durch?" "Na auf die Haut." Julika blickte ihn fassungslos an: "Und da ist es noch heute?" "Ja." Schweigen.
" Es hat sich leider eingefressen. Der Stift war fehlerhaft, wie Edding später beteuerte. Eine kleine Serie mit einem falschen Lösungszusatz. Ein Zwischenfall im Werk. Nur eine kleine Stückzahl. Aber eben. Gerade bei mir..."
Julika bekam riesige Glubschaugen, die wieder kaum mehr vor dem Lachen zu halten waren. "Zeig es mir!"
Ohne Augenkontakt aufzunehmen, schob er den dunkeln Herrenslip nach unten, worauf tatsächlich in grosser, krakeliger Schrift auf nackter Haut stand: ICH WILL ZUR POST.
Julika warf es im selben Moment rücklings aufs Bett. Ihr Lachen füllte den ganzen Raum und ihr fast entblösster Körper vibrierte auf dem zurechtgemachten Bett des spiessigen Jägerhotels. Alvin drückte eine kleine Träne weg und vergrub seinen Kopf in seinen Händen.
Erst als sie langsam wieder zu sich kam, das Lachen einem erlösten Schnaufen gewichen war, blickten sie sich wieder an.
"Es ist zu gut, Alvin. Es ist einfach zu gut. Ich habe ja schon vieles gehört, aber das ist echt das beste". Sie sah, dass ihm diese Worte nicht wirklich helfen konnte und setzt sich neben ihn.
"Du hast es nie einer Frau gezeigt?"
"Nein."
"Du hast wirklich nie mit einer Frau geschlafen deswegen?
"Nun, nicht wirklich, es gab da ein zwei Begegnungen im Dunkeln, aber..."
Julika seufzte kurz durch. "Hart" befand sie. "Ich meine, du hast doch auch schon Lust dazu gehabt oder?"
Alvin schaute ungläubig in ihre Augen und erblickte ihr Lächeln. Er sah, dass sie es ernst meinte, wollte eine Art "ja" nachschieben, verfiel aber bereits ihren entgegenkommenden Lippen. Schnell frass sich der Liebesdurst vorwärts in die beiden nackten Personen hinein.
Ein kurzer Schrei stoppte die sich anbahnenden Harmonie. "Alvin", stiess sie aus, "das ist ja ein Monster!" Unschuldig blickte er entlang seiner Brust in die Tiefe, wo sich unter Julikas Berührung ein grosses Tor zu seiner Unterhose geöffnet hatte, darunter spannte sich sein erigierter Balken. "Er ist riesig." stiess sie aus.
"Nun", wollte Alvin relativieren, doch es blieb ihm kaum noch Zeit dazu.
Julika hatte recht fixe Ideen, was sie alles mit dem besonders gelungenen Exemplar von Männlicheit anfangen wollte und liess sich kaum davon abbringen. Als sie nach mehreren Stunden endlich das Licht löschten, hatten beide etwa an der gleichen Stelle Schmerzen und ein wunderbares Gefühl im Bauch. Neben dem Bett quietschte immer noch leise das Aufnahmegerät, das sich aufgrund der nicht eingelegten Kassette langsam totlief.
Julikas letzte Worte aber schärften sich in sein Gedächtnis ein: "Du wirst gross rauskommen, das verspreche ich dir. Dafür werde ich sorgen". Und er schlief ein.

17. Next page 21.11.01 petra
Gott lehnte sich zurück in ihrem einsamen Bürostuhl und versuchte die Welt zu verstehen. Gute Ansätze, welche sich zu zwölfköpfigen und doch eindimensionalen Hydras mutierten. Sie wollte es doch anders... aber was liesse sich da machen...
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Kleine runde Lichtlein bewegten sich leise um ihn herum. Hielt er seinen Kopf ein wenig schief, so schienen sie manchmal oval zu werden. Langsam schob er den Kopf ein wenig hin und her: ein kurzes zögerliches Spiel, dessen Effekt ihm ein flaues Gefühl im Magen hochsteigen liess. Blau leuchtendes Wasser über seinem Kopf. Blau leuchtendes Wasser um ihn herum. Die Stille ein halbvergessenes Kompliment an die entferntesten Winkel seiner inneren Welt, unruhig, durstig sich entfaltend. Keinerlei verwirrte Gemüter, die ihre Wünsche und Nöte hoffnungsvoll und suchend als kleine Blutegel an ihm abstreiften... keinerlei sinnvolle Tätigkeiten, keine ganz ernste Lebensverpflichtungen, zu denen er die armen Parasitchen in Handumdrehen hochzüchten würde. Sogar die Lust hielt sich versteckt, vordergründig verschwunden wie ein kleiner, sorgfältig unter dem sich endlos dehnenden Sand vergrabener Diamant. Dort wo andere das schlitzende Stechen unter ihren Fussohlen achtlos den überall herumliegenden Muschelschalen zuschreiben würden, dort würde er es wissen, wissen und auch nie vergessen. Und achtlos würde er auftauchen, prustend, mit einer geübten, stolzen und verlorengegangenen Nackenbewegung das tropfende Haar aus den Stirn schwingend. Zweifelnd, schnaufend, seine Augen noch immer aufs Meer gerichtet würde er mit glänzend braunen, hie und da aufgeschrammten Beinen langsam auf die Felsen klettern um die Weite noch mehr in sich aufzunehmen. Seine Mutter, seine Schwestern, sobald er sich dort aufrichten würde, würde er ihre entfernte und besorgt suchenden Blicke wie geliebt-gehasste Fangarme über seine mit tausend Antennen bestückten Rückenhaut streifen spüren. Oh, er würde sie ihnen erzählen, seine leuchtendblaue Geschichten, mitsamt Geräuschen, ja sogar Gerüchen, die dunklen Ecken wo das Abenteuer oder auch das Schicksal zu lauern schien, die Monstern und Schätze dieser seiner Unterwasserwelt mit seinen liebsten Witzen ausschmücken, ohne ihnen den Weg dorthin verraten zu wollen oder vielleicht auch zu können. Sie würden ihn mal wieder über den Kopf streichen, halblachend, halb verunsichert. Wie weit er sich immer wieder von ihnen entfernte, an diesem sommerlichen felsigen Mittelmeerstrand, aber auch in die nicht enden wollenden Windungen seines fleissigen Kinderhirnes. Zufrieden würde er sich huldigen lassen, sich auf die Nüsse in der goldschimmernden Metallschachtel stürzen, sich auf seinem kratzigduftenden Baumwolltuch ausstrecken und mit dem herumliegenden Deckel versuchen das Sonnenlicht zu fangen und für eine ganz kleine Sekunde nur auf seine Augen zu lenken. Das orientierungslose Geplauder der kleinen und grossen Frauen, dem er vorher so definitiv entkommen wollte, ja unbedingt musste, jetzt beruhigender, wärmer, umhüllender und schützender als jegliche Badetücher dieser Welt. Er kniff sich die Augen vorsichtshalber zu.....

Durch halbverschlossene Augen studierte er die dunkle Kontur der gemeinsamen Decke, drehte sich zur Seite und schaute sie an. Der Körper eingerollt, ihr gerötetes Gesicht im Schlaf verschleiert. Ihr Atem fast nicht hörbar, ein leises, müdes Schnaufen, wie, ja wie? Ihre Wärme wie ein schuldfreies, vollkommenes Geschenk, dessen Dieb er sich trotzdem wähnte. In seinem Kopf fing er langsam an, ihr die besten seiner Monster- und Schatzgeschichten in farbigster, erleichtert-bravouröser, bester Ausschmückung je zu erzählen. Wohl wissend, dass am morgigen, nein bereits jetz anklingenden Tag die unwiderruflichen und schon jetzt heftig in ihm aufflackernden Zweifel und Scheuheit jegliche weitere befreiende Schritte verunmöglichen würden. Als er wie benommen an die Stelle gelangte, wo er ihr - und nur ihr, in diesem ganzen Leben schon, nicht seinen Schwestern, nicht seiner Mutter, nicht mal den glänzenden Fischen oder dem vertrauten goldigen Deckel der verbeulten Baumnussschachtel - nur ihr das ewige Versteck seines einen Diamanten flüstern möchte, das Sand hier und jetzt und mit ganzer Seele auf die Seite wischen möchte, brach alles ihm bisher Bekannte, trainiert Stabile definitiv aus den Fugen. Er schloss seine Augen, das ungläubige und idiotische Schütteln seines gesamten Körpers, das Gefühl von aufbrechenden, stechenden Muschelschalen knapp oberhalb seinem Magen, die salzigen Tränen wie feuerrot brennende Schramme auf seinem verblüfft grinsenden und panikverzerrten Gesicht...
Oh Gott. Oh ja. Oh Teufel.
Er liebte sie, er liebte sie... Er liebte sie wie eine nie endende Kalamität, wie seine Schwester und seine Mutter, wie das schwüle blaue Meer, wie eine ewige Umarmung mit sich selbst und doch und endlich und eben genau darum nicht mehr und nie mehr alleine.
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Gott lachte kurz. Sie würden es sich nicht eingestehen. Vielleicht sich beim Lesen sogar enttäuscht wehren: oh nein ..... nein ....... Liiiiiiiiiiiieeeeeeeeebe .... und Gefüüüüüüüüüüüüühle ......... Gierig nach dem nächsten Fieber ... dem nächsten Flash ... den nächsten Klick und Kick ... Moderne E-Bürger .... Ingenieure ....
Goto next page....
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Sowie auch Alvin, als er - eben in allerletzter Minute einer vollends durchwachten Nacht doch noch eingeschlafen - erschrocken hochfuhr, aus Zimmer 12 herausstolperte, verblüfft in das trostlose, braungepolsterte und aschenparfümierte Restaurant stürzte, und - da er sie auch dort nicht fand -, wie verdattert zu den zwei Melser Bauarbeitern an den Stammtisch schob, den letzten bereits vor Jahrzehnten ausgetrockneten Nussgipfel aus der Hülle schieb -- ach wo bist du, süsse Julika... - und den Blick - goto next page -- auf Seite 3 aufblätterte....

18. Alvin am Ende 24.11.01 werner
...PÖSTLER BUMSEN BESSER. Unten ein Bild von Alvins unfreiwilligem, doch sehr intimem Tatoo. Grobkörnig. Grobschlächtig. Grob. Der Artikel ist gezeichnet von jw. Im Text wird der Rest blossgelegt, der mit Bildern nicht blosszulegen ist. Nebenan auf Seite 2, wieso solls heute anders sein, ein Bild für Pöstler. Nicht so grobkörnig. - Alvin hebt den Blick. Tränen klatschen ihm ins Gesicht: Julika macht Angelo schöne Augen und Paul schäkert mit Miriam im 'El Greco'. Rita fischt in Kanada. Von Fern hört Alvin diese einschlafende Gummibootpumpe.
Das ist der Moment als Gott eingreift. "Dann eben Sargans", sagt sie sich. Gott bindet sich die Werktagsschürze um, streckt sich gründlich durch, spuckt in beide Hände und geht ans Werk. "Beginnen wir mit etwas einfachem." Alvin sieht, wie sich auf den trocknen Nussgipfeln Blasen bilden. Sie formieren sich zu Buchstaben. Dann beginnen sie zu leuchten, Rauch steigt auf. Alvin wischt sich die Tränen aus dem Gesicht: "M.A.T.T." - Alvin versteht nicht. Die Nussgipfel schreiben weiter: "Matt steckt dahinter." - "Hä? Ich denke, ich werde soeben aufs übelste durch den Dreck gezogen und ihr flüstert mir etwas von einem Matt?" - "Du musst glauben, nicht fragen." Sie bedeuten ihm, ihnen zu folgen. "Eigentlich sehen sie ganz nett aus", sagt sich Alvin, packt seine Tasche und verlässt das 'heitere Kalb'. Draussen sieht er gerade noch, wie einer der Nussgipfel sich über die schlafende Gummibootpumpe hermacht.
Gott lächelt zufrieden. Diese Nussgipfel. "So, jetzt aber weiter." Gott schaut um sich. "Hey, Angelo, lass mal von Julika und mach den Gonzen weg!". Widerwillig schlägt Angelo mit den Flügeln. Sargans ist ein Wahrzeichen ärmer. Es bleiben nicht mehr derer viele. Alvin hört um sich Stimmen verstörter Melser: "Wow isch dr Gunza wow? Wär hät dr Gunza gmuggat?" Alvin dagegen versucht, über klebrige Gummiresten steigend die Nussgipfel nicht aus den Augen zu verlieren. "Ja, Matt steckt dahinter.", rufen die Nussgipfel Alvin zu. Und als er sie einholt: "Hast Du denn gedacht, das mit dieser Rita, Miriam, Julika und wie sie alle heissen, das sei Deinem kleinen Pöstlerhirn entwachsen? - Alvin! Das haben andere Dir angedichtet. Matt hat damit angefangen. Dann kamen Paul, Werner, Roger, Laurie, Mona, und, und, und... Hast du nicht gemerkt, dass dein Leben in den letzten Wochen irgendwie einfach nicht so ganz zusammengepasst hat? Alvin! Du willst weder Rita noch Julika. Befreie Dich von Deinen Marionettenspielern. Finde heraus, was Du wirklich bist und was Du wirklich willst!" - Ok, das ist etwas viel für Alvin. Sein Verhältnis zu Nussgipfeln ist soeben dauerhaft getrübt worden. "Und die 26 Millionen?", fragt Alvin. Die Nussgipfel lösen sich unter schallendem Gelächter auf in tausend kleine Gummibootpumpen.
Im Himmer derweil ruft Gott zum dritten mal nach ihrem Erzengel. "Gabriel, zum Donnerwetter, hast Du mal ne Minute Zeit? Ich hab da was in Sargans." Gabriel eilt schuldbewusst herbei, etwas ausser Atem, er ist auch nicht mehr der jüngste. "Ooops, sorry, das wollte ich nicht." Gott verdreht die Augen. "Pass doch endlich auf, wo du hintrittst!" Unter ihnen schauen 518 Schüler, 23 Lehrer, ein Rektor, zwei die es gerne wären und eine Abwartsfamilie der Kantonsschule Sargans entsetzt nach oben. Wo ihr Schulhaus stand, rauchen nurmehr Trümmer. Eine Feuerssäule jagt durch das Loch im Himmel. Doch das ist nicht das erste mal. Gott weiss Rat. Sie nimmt einen Eimer voll Sintflut und löscht die Feuersbrunst schnell und gründlich. Gelernt ist eben gelernt.

19. Platinum Unlimited Special Edition 26.11.01 matt
6 Uhr morgens. Schweissgebadet schreckte Alvin aus dem Schlaf auf. So einen verworrenen Schwachsinn hatte er schon lange nicht mehr geträumt. Das Abendessen war aber auch sehr reichlich gestern abend. Der erste Teil des Traumes war ja noch sehr schön, ein erotischer, sehr emotionaler Traum, in den das junge Mädchen, das er gestern Abend angesprochen hatte, irgendwie involviert war. Als ob!
Aber danach war es nur noch verworrenes Zeug - Alvin erinnerte sich schwach an psychedelische Nussgipfel, Gummiboote, Höllenfeuer und Sintfluten. Aber noch während Alvin versuchte die Puzzlesteine des nächtlichen Traumes zusammenzusetzen verblasste die Erinnerung daran innert Sekunden. Sein Gehirn versenkte die Traumstücke unglaublich zügig in die unerreichbaren Tiefen seines Unterbewusstseins (oder waren sie gar für immer vergessen?). Vielleicht besser so.
Unter der Dusche fasste Alvin einen Entschluss: Er musste weg hier! Es war nur eine Frage der Zeit, bis ihn die Medienmeute entdecken und gnadenlos hetzen würde. Und die ganzen enttäuschenden Frauengeschichten fingen auch an, ihm zuzusetzen. Er hatte die Nase voll.
Nach dem Frühstuck - Julika von gestern abend war nirgends zu sehen - liess er sich ein Taxi kommen. Der Taxifahrer weigerte sich erst, nach Zürich zu fahren, aber nachdem ihm Alvin 500 Franken zugesteckt hatte ging's los. Nach einem kurzen Zwischenhalt in seiner Wohnung, wo Alvin seinen Pass holte, ging's weiter zum "internäschonäl Höbb Ärport Unique Zurich". Früher war das mal der Flughafen Kloten.
In der CS-Filiale am Flughafen schob Alvin seine Kreditkarte über den Tresen - Visa Platinum Unlimited Special Edition. Die hatten sie ihm damals ungefragt zugeschickt, nachdem eines Tages plötzlich 26 Millionen auf sein Lohn-Kontokorrent krachten. Danach hatte praktisch täglich ein Bank-Heini angerufen und wollte ihn zwangsberaten.
50'000 in grossen Scheinen in der Jackentasche fühlten sich eigentlich recht gut an. Jetzt noch schnell eine Zahnbürste und zwei sportlich moderne Anzüge von Armani gekauft (der Typ im Laden war jetzt auch nicht sicher, ob man "Giorgio" oder "Dschordscho" sagen musste).
"Wohin möchten Sie fliegen", fragte ihn der höfliche Mann am Ticket-Schalter der Lufthansa. Alvin hatte diese Reportage am Fernsehen gesehen (Kabel 1). Es gab da eine Stadt in der Wüste. Sie war riesig, sie war absurd, sie war anonym. Genau, was Alvin jetzt brauchte.
"Las Vegas. One way. Erste Klasse. Gleich." Alvin blätterte die 6700 Stutz bar auf die Theke. Las Vegas, das war die Stadt in deren Adern Geld, Sex und Drogen pumpten, 24 Stunden am Tag. In dieser Stadt war Geld nicht einfach ein Zahlungsmittel, Geld war hier ein Rohstoff, der täglich verarbeitet, veredelt, umverteilt, gewonnen und gehandelt werden musste. Las Vegas war eine Art Vorschau wie die Welt einmal sein würde, wenn der letzte verschämte Anspruch auf Moral, Mitmenschlichkeit und Kultur endlich vergessen sein würde. Für Geld konnte man in dieser Stadt einfach alles haben, deshalb waren dort soviele Menschen versammelt, die zwar kein Leben hatten, es sich aber leisten konnten eines zu kaufen. Menschen wie Alvin.
Alvins Englisch war zwar nicht so "great", aber er hatte ja mehr als genug Cash, und diese Sprache verstand man schliesslich überall.
Voller Erwartung und erleichtert, die ganzen Verwirrungen hinter sich zu lassen, lehnte sich Alvin in seinem feudalen Sessel zurück und liess sich vom Flight Attendant das erste Glas Champagner reichen.
Alvin war bereit: Das pralle Leben konnte jetzt beginnen.

20. Ueber den Wolken 12.12.01 urs
Alvin sass und guckte zufrieden aus dem kleinen, ovalen Fenster. Er sah nur blau. Unten wie oben, und eigentlich konnte er gar nicht mehr so genau sagen, was unten und was oben war. Dabei wurde ihm fast schwindelig. Unten, oben, das war ja auch gar nicht so wichtig. Ein sanftes Lächeln lag ihm im Gesicht. Die Flucht war ihm eindeutig gelungen. Fast hätte er selig angefangen ein Liedchen zu summen. Allerlei Gedanken gingen unserem Helden so durch den Kopf. Vielleicht könnte er etwas Gutes tun, dachte er sich. Vielleicht das ganze Geld einem guten Zweck spenden, anstatt es in Las Vegas einfach zu verprassen. Zum Beispiel ein Kinderhilfswerk in Bolivien gründen, ein Spital in Nepal, ein Pflegeheim in Ausserholigen. Heiter war er und beschwingt; auch vom vielen Champagner, den man ihm immer wieder nachschenkte. Die Vorstellung, durch seine Spenden Menschen zu helfen und dabei auch noch berühmt zu werden, liess ihn sich noch besser fühlen. Sein Lächeln wurde immer offener. Und es wurde erwidert: Der Flight Attendant sah gut aus in seiner Uniform. Natürlich braungebrannt, und so fantastisch weisse Zähne. Alvin überlegte sich ernsthaft ein zahnmedizinisches Institut in Angola auf die Beine zu stellen. Sollen doch alle, alle auf der Welt so schöne weisse Zähne haben, wie dieser blauäugige, blonde Prinz in Uniform.
Der Flight Attendant füllte Alvins Glas nach. Er lächelte Alvin an. Alvin lächelte zurück. Der Flight Attendant zwinkerte Alvin zu und legte ihm seine Hand vertraulich auf die Schulter. Alvin kriegt Angst.

21. Soft-Landung 25.12.01 mona
Alvin rückte etwas zum Fenster in seinem sonst schon engen Sitz. Der Flight-Attendant interpretierte das als Aufforderung sich neben ihn zu setzen. Alvin wollte schon einen Schweissausbruch haben, da spürte er noch rechtzeitig, dass ihm gar nicht unwohl wurde. Nein, das Lächeln des Mannes war offen und wohlwollend und angenehm. Alvin dachte sich, dass er jetzt endlich ernsthaft zu leben anfangen sollte und seine Ängste langsam aber sicher über Bord werfen. Tja, wo würde das besser funktionieren als im Flugzeug. Beschwingt und fröhlich wandte er sich dem Flight-Attendent zu und sagte:"Was gibt's?" Seine légère Art liess ihn etwas Champagner verschütten.
Aber sein Gegenüber schien nichts zu merken. Der Mann seufzte erleichtert und sagte:"Ich bin Geri. Ich wollte dich um einen Gefallen bitten." Alvin zog die Augenbrauen etwas hoch und zwinkerte ihm zu. "Ich bin Alvin und kann wohl etwas für dich tun", sagte er sehr langsam und sehr sicher. Das war irgendwie nicht möglich, dass ihm dieser Satz so einfach von den Lippen sprang. Er würde sich später mit dem Schicksal unterhalten. Er fand die neuen Eingebungen echt cool. "Weisst du", fuhr der andere unbeirrt weiter,"in der zweiten Reihe sitzt eine unwahrscheinlich sympathische Frau und ich möchte sie gerne kennenlernen, aber nicht alleine." Alvin stutzte. Er hatte bis heute nur das brennende Bedürfnis gekannt sympathische Frauen möglichst auf einer einsamen Insel problemlos für sich einzunehmen. Er stellte sich schon vor, wie er da mit Pfeil und Bogen um die nächste Palme bog, um die Schöne vor dem Tiger zu retten..., da sagte er auch schon: "Genial, komm wir gehen in die zweite Reihe und verschönern ihr die Reise." Alvin war ein anderer. Der Blonde schaute ihm etwas ungläubig nach, als Alvin leicht federnd sich in Bewegung setzte. Er schlich hinterher, man konnte nie wissen, dieser Mut war ansteckend. Staunend schaute er in die lächelnden Augen der Frau als Alvin sagte: "Wir dachten uns, du hättest vielleicht Lust auf etwas Gesellschaft. Er hat mich geholt, weil er dich sympathisch findet und mich wohl auch, und er...sieht doch cool aus. Was meinst du, sollen wir uns ein bisschen etwas erzählen?"

22. Orangen 14.4.04 matt
Für eine Orange würde er seine Mutter verkaufen. Eine saftige, süsse Blond-Orange aus Spanien. Manchmal hatten diese Orangen so einen kleinen Kleber auf der Schale: "Götterfrucht".
Für eine frische Ananas gar würde er Jahre seines Lebens geben. Eine gelbe, tropfende Ananas im richtigen Reifestadium, mit der richtigen Mischung aus Säure und Süsse - eine Geschmacks-Explosion in seinem Munde!
In letzter Zeit waren diese Essens-Fantasien wieder schlimmer geworden: Pizza. Eiscreme. Raclette. Snickers.
Stattdessen: Jeden Tag diese gottverdammten Scheiss-Kokosnüsse! Alvin konnte sie nicht mehr sehen, nicht mehr riechen. "Halt, Alvin!" - hörte er in seinem Innern die Stimme seiner Mutter - "nicht undankbar sein - nicht Gott versuchen!"
Mamma hatte recht (die Grenze zwischen den imaginären Stimmen in seinem Kopf und realen Stimmen war schon vor Monaten verschwommen) - die Kokosnüsse hatten ihm schliesslich das Leben gerettet, hatten seinen unsäglichen Durst gelöscht, hatten ihn jeden Tag ernährt, bis er gelernt hatte, was die Insel sonst noch an Essbarem hergab. "Tut mir leid, Mamma!".
2 Jahre, 3 Monate und 20 Tage lang hatte er durchgehalten. Ohne Orangen und ohne Pizza. Als die Angst ums Ueberleben kleiner geworden war, als Alvin langsam klar wurde, dass er auf dieser Insel weder verdursten, noch verhungern noch erfrieren würde, wurde das Leben von Tag zu Tag langweiliger. Die kleine Insel war bald erforscht. Es war eine langweilige Insel. Das Essen war langweilig. Das Meer war langweilig. Der Himmel war langweilig. Alvin's Tagträume wurden langweilig. Es war nur noch ein "Dasein", ein Vegetieren, nichts was den Namen "Leben" verdiente.
Und trotzdem stand Alvin jeden morgen auf, pflückte seine 3 Kokosnüsse, schwamm hinaus zum Krabbenkorb, lief dann hinauf zur Quelle und dann weiter auf die Spitze des Hügels, um dort mehrere Stunden Ausschau zu halten nach einem Schiff, dass doch irgendwann kommen musste, um ihn zu retten. Ein Schiff mit Menschen drauf - richtigen Menschen, mit richtigen Stimmen.
23. Quadratur des Kreises 16.4.04 werner
Die letzten Menschen, die sein Dasein noch mit ihm teilten, waren damals Geri - der Flight Attendant von der Lufthansa - und diese (wahrscheinlich) unwahrscheinlich sympathische Frau. Destination Vegas. Dann ging es ziemlich unerwartet runter. Panik machte sich breit und die Notlandung in der Karibik war auch in der First Class alles andere als soft, wie das der Titel jenes so schönen wie kurzen Kapitels hätte vermuten lassen.
Alvin ist am rechten Ende seines Gesichtsfelds angelangt, macht eine Vierteldrehung und späht den Horizont weiter ab nach der fernen Silhouette eines Schiffs.
Menschen, ein Gegenüber, Lob, Kritik, Emotionen, Liebe, ja sogar Hass - das ist, woran ihm mehr mangelt als Vitamin A. Sein Bewusstsein wurde über die Monate und Jahre dämmriger. Alvin, ein Repräsentant der Schöpfungs Krönung und rechtmässiger Besitzer eines respektablen, nachrichtenlosen Vermögens, ist dabei, aus seinem eigenen Leben wegzufaden.
Er macht wieder eine Vierteldrehung, Quadrant Nummer drei. Je 23 volle Runden am Morgen und am frühen Abend. Eine der wenigen Zahlen, die für Alvin noch Bedeutung trägt.
Während den ersten paar Monaten hatte er sich tägliche Sprechpraxis auferlegt. Er sprach mit diversen Palmen über Themen wie 'Was ist Glück?' oder 'Gibt es Zufall?'. Einmal unterhielt er sich mit der Quelle über die Fussball Europameisterschaft. Diese Gespräche forderten viel Disziplin. Als er nicht mehr urteilen konnte, ob er wirklich eine Sprache sprach, die ein reales Gegenüber verstehen würde, stellte er die tägliche Sprechpraxis umgehend ein.
Alvin wendet sich dem vierten Quadranten zu. Wir stellen uns natürlich vor, wie immens Alvins Sehnen nach Rettung sein muss. Wie marternd sein Hoffen auf dieses kleine Zeichen am Horizont sein ganzes Denken wie ein Geschwür eingenommen hat. - Doch sehen wir uns Alvin an, wie er Quadrant um Quadrant absucht, Runde um Runde auf der Spitze des Hügels dreht, so erschrecken wir. Sein Blick ist stumpf. Mehr der eines Tieres als eines Menschen. Wir beginnen die Motivation dieses Ausschau nach Rettung Haltens zu verstehen. Es ist nur noch das Ausführen einer der wenigen, nicht aufgegebenen Betätigungen. Nichts mehr. So lange Alvin gehen kann, wird er auf die Spitze des Hügels gehen. Und so lange Alvin sehen kann, wird er den Horizont nach einem Schiff absuchen.
Der Freitagabend winkt im Lichte einer lieblichen Frühlingssonne. In Erwartung eines feinen Nachtessens und in Vorfreude auf ein wohl verdientes Wochenende in Gesellschaft vieler Freunde gefällt es mir nun, Alvin noch etwas auf seiner Insel ohne Hoffnung, ohne Sehnen und ohne Sinn zu lassen.
Was würde eine Nixe, die der Brandung entsteigt, schon ändern an Alvins Grundkonstellation? Wie einfach wäre es doch für uns Happy-End konditionierte Autoren, Alvin ein Mobile Phone zuschwimmen zu lassen! Und: Wen wollen wir wirklich glücklich machen, indem wir Alvin jene geheimnisvolle Höhle am Fusse des Hügels entdecken lassen, von der wir schon längst wissen? Ist Alvin auf seiner Insel nicht in Tat und Wahrheit so nahe an seiner Realität wie nie zuvor?
Entschuldigt. Bestimmt finden sich gnädigere Autoren als ich es mir heute zugestehe. Autoren, die Alvin nur allzu bald wieder heim führen in die Welt der Illusionen. Jene Welt, welche im Grunde unser aller wahres Element ist; in der wir uns fühlen, wie ein Fisch im Wasser. Jene Welt, die in zauberhafter Weise Ursprung alles Realen ist.
Alvin hat soeben Runde 23 beendet und steigt den Pfad hinunter, den er schon 1685 mal hinunter stieg.