ALVIN

 
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petra
21.11.01
Gott lehnte sich zurück in ihrem einsamen Bürostuhl und versuchte die Welt zu verstehen. Gute Ansätze, welche sich zu zwölfköpfigen und doch eindimensionalen Hydras mutierten. Sie wollte es doch anders... aber was liesse sich da machen...
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Kleine runde Lichtlein bewegten sich leise um ihn herum. Hielt er seinen Kopf ein wenig schief, so schienen sie manchmal oval zu werden. Langsam schob er den Kopf ein wenig hin und her: ein kurzes zögerliches Spiel, dessen Effekt ihm ein flaues Gefühl im Magen hochsteigen liess. Blau leuchtendes Wasser über seinem Kopf. Blau leuchtendes Wasser um ihn herum. Die Stille ein halbvergessenes Kompliment an die entferntesten Winkel seiner inneren Welt, unruhig, durstig sich entfaltend. Keinerlei verwirrte Gemüter, die ihre Wünsche und Nöte hoffnungsvoll und suchend als kleine Blutegel an ihm abstreiften... keinerlei sinnvolle Tätigkeiten, keine ganz ernste Lebensverpflichtungen, zu denen er die armen Parasitchen in Handumdrehen hochzüchten würde. Sogar die Lust hielt sich versteckt, vordergründig verschwunden wie ein kleiner, sorgfältig unter dem sich endlos dehnenden Sand vergrabener Diamant. Dort wo andere das schlitzende Stechen unter ihren Fussohlen achtlos den überall herumliegenden Muschelschalen zuschreiben würden, dort würde er es wissen, wissen und auch nie vergessen. Und achtlos würde er auftauchen, prustend, mit einer geübten, stolzen und verlorengegangenen Nackenbewegung das tropfende Haar aus den Stirn schwingend. Zweifelnd, schnaufend, seine Augen noch immer aufs Meer gerichtet würde er mit glänzend braunen, hie und da aufgeschrammten Beinen langsam auf die Felsen klettern um die Weite noch mehr in sich aufzunehmen. Seine Mutter, seine Schwestern, sobald er sich dort aufrichten würde, würde er ihre entfernte und besorgt suchenden Blicke wie geliebt-gehasste Fangarme über seine mit tausend Antennen bestückten Rückenhaut streifen spüren. Oh, er würde sie ihnen erzählen, seine leuchtendblaue Geschichten, mitsamt Geräuschen, ja sogar Gerüchen, die dunklen Ecken wo das Abenteuer oder auch das Schicksal zu lauern schien, die Monstern und Schätze dieser seiner Unterwasserwelt mit seinen liebsten Witzen ausschmücken, ohne ihnen den Weg dorthin verraten zu wollen oder vielleicht auch zu können. Sie würden ihn mal wieder über den Kopf streichen, halblachend, halb verunsichert. Wie weit er sich immer wieder von ihnen entfernte, an diesem sommerlichen felsigen Mittelmeerstrand, aber auch in die nicht enden wollenden Windungen seines fleissigen Kinderhirnes. Zufrieden würde er sich huldigen lassen, sich auf die Nüsse in der goldschimmernden Metallschachtel stürzen, sich auf seinem kratzigduftenden Baumwolltuch ausstrecken und mit dem herumliegenden Deckel versuchen das Sonnenlicht zu fangen und für eine ganz kleine Sekunde nur auf seine Augen zu lenken. Das orientierungslose Geplauder der kleinen und grossen Frauen, dem er vorher so definitiv entkommen wollte, ja unbedingt musste, jetzt beruhigender, wärmer, umhüllender und schützender als jegliche Badetücher dieser Welt. Er kniff sich die Augen vorsichtshalber zu.....

Durch halbverschlossene Augen studierte er die dunkle Kontur der gemeinsamen Decke, drehte sich zur Seite und schaute sie an. Der Körper eingerollt, ihr gerötetes Gesicht im Schlaf verschleiert. Ihr Atem fast nicht hörbar, ein leises, müdes Schnaufen, wie, ja wie? Ihre Wärme wie ein schuldfreies, vollkommenes Geschenk, dessen Dieb er sich trotzdem wähnte. In seinem Kopf fing er langsam an, ihr die besten seiner Monster- und Schatzgeschichten in farbigster, erleichtert-bravouröser, bester Ausschmückung je zu erzählen. Wohl wissend, dass am morgigen, nein bereits jetz anklingenden Tag die unwiderruflichen und schon jetzt heftig in ihm aufflackernden Zweifel und Scheuheit jegliche weitere befreiende Schritte verunmöglichen würden. Als er wie benommen an die Stelle gelangte, wo er ihr - und nur ihr, in diesem ganzen Leben schon, nicht seinen Schwestern, nicht seiner Mutter, nicht mal den glänzenden Fischen oder dem vertrauten goldigen Deckel der verbeulten Baumnussschachtel - nur ihr das ewige Versteck seines einen Diamanten flüstern möchte, das Sand hier und jetzt und mit ganzer Seele auf die Seite wischen möchte, brach alles ihm bisher Bekannte, trainiert Stabile definitiv aus den Fugen. Er schloss seine Augen, das ungläubige und idiotische Schütteln seines gesamten Körpers, das Gefühl von aufbrechenden, stechenden Muschelschalen knapp oberhalb seinem Magen, die salzigen Tränen wie feuerrot brennende Schramme auf seinem verblüfft grinsenden und panikverzerrten Gesicht...
Oh Gott. Oh ja. Oh Teufel.
Er liebte sie, er liebte sie... Er liebte sie wie eine nie endende Kalamität, wie seine Schwester und seine Mutter, wie das schwüle blaue Meer, wie eine ewige Umarmung mit sich selbst und doch und endlich und eben genau darum nicht mehr und nie mehr alleine.
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Gott lachte kurz. Sie würden es sich nicht eingestehen. Vielleicht sich beim Lesen sogar enttäuscht wehren: oh nein ..... nein ....... Liiiiiiiiiiiieeeeeeeeebe .... und Gefüüüüüüüüüüüüühle ......... Gierig nach dem nächsten Fieber ... dem nächsten Flash ... den nächsten Klick und Kick ... Moderne E-Bürger .... Ingenieure ....
Goto next page....
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Sowie auch Alvin, als er - eben in allerletzter Minute einer vollends durchwachten Nacht doch noch eingeschlafen - erschrocken hochfuhr, aus Zimmer 12 herausstolperte, verblüfft in das trostlose, braungepolsterte und aschenparfümierte Restaurant stürzte, und - da er sie auch dort nicht fand -, wie verdattert zu den zwei Melser Bauarbeitern an den Stammtisch schob, den letzten bereits vor Jahrzehnten ausgetrockneten Nussgipfel aus der Hülle schieb -- ach wo bist du, süsse Julika... - und den Blick - goto next page -- auf Seite 3 aufblätterte....

 
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