ALVIN |
|||||
[ 23 ] |
Quadratur des Kreises |
||||
werner 16.4.04 |
Die letzten Menschen, die sein Dasein noch mit ihm teilten, waren damals Geri - der Flight Attendant von der Lufthansa - und diese (wahrscheinlich) unwahrscheinlich sympathische Frau. Destination Vegas. Dann ging es ziemlich unerwartet runter. Panik machte sich breit und die Notlandung in der Karibik war auch in der First Class alles andere als soft, wie das der Titel jenes so schönen wie kurzen Kapitels hätte vermuten lassen. Alvin ist am rechten Ende seines Gesichtsfelds angelangt, macht eine Vierteldrehung und späht den Horizont weiter ab nach der fernen Silhouette eines Schiffs. Menschen, ein Gegenüber, Lob, Kritik, Emotionen, Liebe, ja sogar Hass - das ist, woran ihm mehr mangelt als Vitamin A. Sein Bewusstsein wurde über die Monate und Jahre dämmriger. Alvin, ein Repräsentant der Schöpfungs Krönung und rechtmässiger Besitzer eines respektablen, nachrichtenlosen Vermögens, ist dabei, aus seinem eigenen Leben wegzufaden. Er macht wieder eine Vierteldrehung, Quadrant Nummer drei. Je 23 volle Runden am Morgen und am frühen Abend. Eine der wenigen Zahlen, die für Alvin noch Bedeutung trägt. Während den ersten paar Monaten hatte er sich tägliche Sprechpraxis auferlegt. Er sprach mit diversen Palmen über Themen wie 'Was ist Glück?' oder 'Gibt es Zufall?'. Einmal unterhielt er sich mit der Quelle über die Fussball Europameisterschaft. Diese Gespräche forderten viel Disziplin. Als er nicht mehr urteilen konnte, ob er wirklich eine Sprache sprach, die ein reales Gegenüber verstehen würde, stellte er die tägliche Sprechpraxis umgehend ein. Alvin wendet sich dem vierten Quadranten zu. Wir stellen uns natürlich vor, wie immens Alvins Sehnen nach Rettung sein muss. Wie marternd sein Hoffen auf dieses kleine Zeichen am Horizont sein ganzes Denken wie ein Geschwür eingenommen hat. - Doch sehen wir uns Alvin an, wie er Quadrant um Quadrant absucht, Runde um Runde auf der Spitze des Hügels dreht, so erschrecken wir. Sein Blick ist stumpf. Mehr der eines Tieres als eines Menschen. Wir beginnen die Motivation dieses Ausschau nach Rettung Haltens zu verstehen. Es ist nur noch das Ausführen einer der wenigen, nicht aufgegebenen Betätigungen. Nichts mehr. So lange Alvin gehen kann, wird er auf die Spitze des Hügels gehen. Und so lange Alvin sehen kann, wird er den Horizont nach einem Schiff absuchen. Der Freitagabend winkt im Lichte einer lieblichen Frühlingssonne. In Erwartung eines feinen Nachtessens und in Vorfreude auf ein wohl verdientes Wochenende in Gesellschaft vieler Freunde gefällt es mir nun, Alvin noch etwas auf seiner Insel ohne Hoffnung, ohne Sehnen und ohne Sinn zu lassen. Was würde eine Nixe, die der Brandung entsteigt, schon ändern an Alvins Grundkonstellation? Wie einfach wäre es doch für uns Happy-End konditionierte Autoren, Alvin ein Mobile Phone zuschwimmen zu lassen! Und: Wen wollen wir wirklich glücklich machen, indem wir Alvin jene geheimnisvolle Höhle am Fusse des Hügels entdecken lassen, von der wir schon längst wissen? Ist Alvin auf seiner Insel nicht in Tat und Wahrheit so nahe an seiner Realität wie nie zuvor? Entschuldigt. Bestimmt finden sich gnädigere Autoren als ich es mir heute zugestehe. Autoren, die Alvin nur allzu bald wieder heim führen in die Welt der Illusionen. Jene Welt, welche im Grunde unser aller wahres Element ist; in der wir uns fühlen, wie ein Fisch im Wasser. Jene Welt, die in zauberhafter Weise Ursprung alles Realen ist. Alvin hat soeben Runde 23 beendet und steigt den Pfad hinunter, den er schon 1685 mal hinunter stieg. |
||||
|