ALVIN

 
[ 12 ]
 
Flucht
 
jakob
4.11.01
Natürlich war es Rita, welche die Schlacht gewann.
Natürlich nützte ihr das nicht viel, denn gleich wurde die Türe zum Zimmer aufgesprengt und Krankenschwestern und ein Pfleger machten dem Treiben ein Ende und beförderten beide Frauen auf die Strasse.
Aber natürlich half Alvin auch das nichts, denn nun stürmte ein zahlenmässig starkes TV-Team des Lokalsenders den Raum. Aufgeweckt durch die Schlagzeile des BLICK wollten sie wissen, wie er sich fühle, ob er das Ganze schon realisiert habe, ob er Frau und Kinder habe, ob er dann wenigstens eine Katze habe, wie die sich fühle und ob ... . Nun ja, man kennt das ja zur Genüge, die Home-stories.
Alvin hörte gar nicht hin. Tiefe Trauer senkte sich über ihn, denn nichts bewahrte ihn vor der Einsicht, dass die plötzliche Liebe von Rita nur der Liebe zu seinem Geld entsprungen war, desgleichen jene von Miriam, und dass die wahre Liebe ferner gerückt war den je. Denn, vielleicht ausgelöst durch den Schlag auf den Kopf, waren BMW-Flitzer, weisser Dandyanzug und derlei ihm wieder total einerlei, denn, vielleicht angeregt durch diese jungfräulichen weissen Wände und Gerätschaften des Spitalzimmers, schien Alvin die wahre Liebe das alleinig Erstrebenswerte.
In seiner Trübsal realisierte Alvin erst allmählich, dass sich ein zweites TV-Team mit dem ersten um die guten Plätze an seinem Bett stritt. Und man würde es nicht glauben, unserm allzeit ungeschickten Alvin gelang in dem wilden Durcheinander die Flucht, durch die labyrinthischen Gänge des Krankenhauses (oder war das wieder nur ein Traum) auf die Strasse. Sogar seine schwarze Hose mit Brieftasche und Ausweis war ihm irgendwie, unter seinen Arm geklemmt, gefolgt. Diese Hose zog er nun hastig über seinen nackten Hintern an. Das weisse Spitalhemd darüber kleidete ihn nun beinahe wie die Djellabah die Araber.
Nun stürzten seine Verfolger aus dem Tor, auch sie in Djellabahs, denn es waren nicht die Fernsehleute, die sich offenbar noch immer prügelten, sondern die Pfleger in ihren Schürzen, die "haltet den Flüchtling" riefen. Aber wen interessiert das schon in einer grossen Stadt. Alvin spurtete davon, wobei wegen der fehlenden Unterhose das Glied plus Zutat unangenehm im linken Hosenrohr baumelte. Doch schon schlossen sich die Tramtüren hinter ihm. Und nach zweimaligem Wechseln der Linie hätte ihn der beste Detektiv verloren.
Jetzt stand er in der grossen, leeren Halle des Hauptbahnhofes; der riesige, fette, bemalte Engel über ihm war das einzige Wesen, das ihn zu beachten schien. Selbstmitleid schüttelte ihn. Diese grausame, kalte Stadt. Denen würde er es zeigen, allen, die danach trachteten, ihn zu manipulieren und auszunützen! Er stieg in den nächstbesten Zug ein und stierte vor sich hin. All diese Schreiberlinge von den Zeitungen und die Fernsehfritzen, die seine Geschichte umschreiben, ihm ihre Geschichte auf den Leib schreiben wollten. Aber hatte er denn überhaupt eine eigene Geschichte? So blass wie er war. Die junge, hübsche Frau, die ihm gegenübersass, beobachtete ihn mit Interesse aber auch Sorge, ohne dass er davon etwas mitbekommen hätte.
Nach einer Stunde befand Alvin, der Fahrerei sei nun genug, und er stieg aus. Das Licht der milden Sonne fiel auf die farbigen Herbstwälder, die sich die Berghänge hochzogen, und auf das Schild des Bahnhofs "Sargans". Er schritt durch die Unterführung dem Ausgang zu. Das baumelnde Glied im Hosenrohr störte ihn wieder. Ein paar Schülerinnen starrten ihn in seinem weissen Hemd an: Landeier eben.

 
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